Beschäftigen wir uns etwas mit Sufismus, der islamischen Mystik. Ich empfinde Sufismus als eine Mittelposition zwischen fernöstlicher Weisheit und dem Schamanismus des Westens z.B. in Mexiko und Zentralamerika. Aber natürlich wieder mit ganz eigenem Ausdruck, wie er eben für diesen Kulturkreis typisch ist. Dabei stelle ich fest, dass eigentlich allen drei Kulturkreisen ein wesentlich gleicher Kern zugrunde liegt, und dass nur die Ausdrucksweise uns beinahe glauben macht, wir hätten es mit ziemlich verschiedenen Dingen zu tun.

Es gehört zum Wesen des Sufismus, sich sehr bildhaft  auszudrücken und abstrakte Formulierungen eher zu meiden, jedenfalls da, wo sich der Sufismus an die Allgemeinheit wendet und nicht an Gelehrte. Das bringt es dann mit sich, das wir die erzählten Geschichten oft nicht auf Anhieb verstehen, sondern zuerst lange hineinfühlen müssen, bis sich der Sinn etwas entschleiert.

Ein solches Geschichtlein möchte ich hier erzählen und auch zu interpretieren versuchen. Es geht dabei um einen Derwisch. Derwisch ist persisch und heisst eigentlich Bettler. Es handelt sich bei Derwischen also um Bettelmönche, die einem Prior unterstellt sind. Der Prior wird Scheich (oder Scheik) genannt und ist in aller Regel ein geistiger Meister. Jeder Derwisch versucht selbstverständlich, auch ein Erleuchteter, ein geistiger Meister zu werden.

Am bekanntesten sind bei uns wohl die Derwische des Mevlana Klosters von Konia in Anatolien mit ihren berühmten Drehtänzen.

Ein Derwisch kommt zu seinem Scheik und fragt ihn: oh Scheik, was ist ein Derwisch?

Der Scheik überlegt einen Moment und antwortet dann:

Da ist ein Schwarm Moskitos, der vor einem offenen Fenster im Freien herumschwirrt. Ein Windstoss kommt, und fegt den ganzen Moskitoschwarm durch das Fenster ins Zimmer hinein, und die meisten auch gleich auf der anderen Seite wieder ebenfalls durch ein offenes Fenster hinaus.

Nur ein Moskito bleibt sitzen, und zwar auf dem Knie der Frau des Scheiks, die sich im Zimmer aufhält.

Die Frau des Scheiks erschlägt den Moskito.

Das ist ein Derwisch.

Da werden wir wohl anfänglich nicht umhin kommen, uns zu fragen, was denn die ganze Geschichte soll.

Überlegen wir mal: was sind Moskitos? Doch eher niedrige Lebensformen, aufs Blutsaugen ausgerichtet, wahrlich keine erleuchteten Wesen. Sie werden vom Wind hin und her getragen, Sinnbild einer zufälligen Lebensweise ohne bestimmtes Ziel. So entsprechen sie der grossen Masse der unerleuchteten Menschen, die eben auch noch kein geistiges Ziel vor Augen hat.

Nun setzt sich also einer dieser Moskitos auf das Knie der Frau des Scheiks, das heisst, er schwimmt nicht weiter mit dem Strom, sondern trifft eine eigene Entscheidung. Und er setzt sich nicht irgendwo hin, sondern sucht das Knie der Frau des Scheiks, also eines Wesens, das ja eine hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, sonst wäre diese Frau nicht die Frau des erleuchteten Meisters. Der Moskito setzt sich also im wahrsten Sinn des Wortes ab von der normalen Masse.

Die Frau erschlägt den Moskito. Dazu ist zu sagen, dass natürlich im Sufismus auch die Seelenwanderung anerkannt wird, das heisst, man glaubt (wie in den meisten  grossen Religionen ausser dem heutigen Christentum), dass man viele Male wiedergeboren wird, um sich so entwickeln zu können, hin zum Licht und zur Erleuchtung.

Das heisst also, dass die Frau dem Moskito die Möglichkeit gibt, sich von seiner niedrigen Lebensweise zu befreien und wiederzukommen in einer höheren Lebensform. Dass es eine höhere Daseinsform sein wird, geht daraus hervor, dass ein selbst erhabenes Wesen ihm diese Verwandlung  erlaubt. (Wir kennen ja aus der indischen Tradition das „Darshan“, das Suchen der Nähe einer erleuchteten Person. Diese Nähe, eigentlich die hohe Schwingung dieser Person, soll uns helfen, selbst höher zu schwingen und damit der Erleuchtung näher zu kommen.)

Somit ist dieser Moskito unbewusst auf der Suche nach der Erleuchtung, nach einer spirituellen Lebensform. Und somit tut er das, was ein Derwisch auch tun möchte, nämlich nach Vollkommenheit trachten.

So gesehen, macht die Geschichte plötzlich Sinn, und ist eigentlich eine bildhaft sehr taugliche Erklärung für die auch abstrakt schwer zu erklärende Suche eines Derwisches.

Die Geschichte ist also eigentlich eine Parabel für das, was wir alle auch sein sollten: Wesen die nach Vervollkommnung trachten.

Meine Interpretation erhebt nicht den Anspruch darauf, die einzig mögliche zu sein. Sie erhellt einen Aspekt einer in sich viel reichhaltigeren Erzählung.

André Peter